Lueget, vo Bergen und Tal
Flieht scho der Sunnestrahl!
Lueget, uf Auen und Matte
Wachse die dunkele Schatte;
D Sunn uf de Berge no stoht.
O, wie si d Gletscher so rot!
Lueget do aben a See!
Heimetzuet wendet si 's Veh;
Loset, wie d Glogge, die schöne,
Fründlig im Moos is ertöne.
Chüejerglüt, üseri Lust,
Tuet is so wohl i der Brust!
Still a de Berge wird's Nacht,
Aber der Herrgott dä wacht.
Gseht-er sälb Sternli dört schine?
Sternli, wie bisch du so frine!
Gseht-er, am Nebel dört stoht's!
Sternli, Gott grüess di, wie goht's?
Loset, es seit is: "Gar guet.
Het mi nit Gott i der Huet?
Frili, der Vater von alle
Loht mi gwüss währli nit falle.
Vater im Himmel, dä wacht."\
Dieses Lied wird von volkstümlichen Überlieferungen dem Berner G. J. Kuhn zugeschrieben; es stammt jedoch, wie H. Stickelberger (Berner Schulblatt, 40. Jahrg., Nr. 12) nachgewiesen hat, von Jos. Anton Henne, dem Vater des Kulturhistorikers Henne am Rhyn, geb. den 22. Juli 1798 in Sargans, gest. 1870 in St. Gallen, wo er früher Kantons- und Stiftsarchivar, zuletzt Sekretär des Erziehungsdepartements und des Erziehungsrats gewesen war. In seinen jungen Jahren (1823) wirkte Henne als Lehrer am Fellenberg'schen Institut in Hofwil und damit hängt die Entstehung unseres Liedes zusammen, das Henne's "Liedern und Sagen aus der Schweiz" (Basel 1824, 2. Aufl. 1827) den Titel trägt: "Abendlied der Wehrliknaben in Hofwyl" und die Widmung "An Freund Wehrli und seine Zöglinge". Das Original (abgedruckt in Webers Poet. Nationallit. d. Schweiz II, 136 und im Berner Schulblatt a a. O.) hat fünf Strophen und lässt aus der gemischten Sprachform erkennen, dass der St. Galler sich offenbar bemühte, berndeutsch zu dichten. Der Volksmund hat einen Teil der sprachlichen Widersprüche ausgeglichen; andere Fehler (z.B. "frine" in der 3. Strophe statt "frins") sind geblieben, sogar neue hineingeschwärzt worden wie (Str. 1): "d Sunn uf de Bergen erstoht" statt: "no stoht" oder "scho stoht", da es doch ein Abendlied ist.
Unsere Fassung in vier Strophen ist ein Versuch, zwischen dem fehlerhaften Original und der besten mündlichen Überlieferung zu vermitteln. Die Melodie, von Ferd. Huber, aud den Délices de la Suisse, usw. Basel, E. Knop (um 1830) Nr. 36.
Quelle: Im Röseligarte, Schweizerische Volkslieder